»Selbstrealisation« Wladimir Kalistratow ‒ Eröffnungsrede, 6-4-2023

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Wla­di­mir Kali­stra­tow legt in sei­nem Werk eine visio­nä­re Kraft an den Tag, die Künst­lern eigent­lich schon im letz­ten Jahr­hun­dert ver­lo­ren­ge­gan­gen ist, bzw. ver­wor­fen und zuletzt ganz abge­lehnt wur­de, näm­lich der „Kunst als Medi­um sozia­ler Kon­flik­te“. 1gleich­na­mi­ger Buch­ti­tel: Horst Bre­de­kamp: „Kunst als Medi­um sozia­ler Kon­flik­te“, Suhr­kamp Ver­lag, Frank­furt a.M., 1975.

Schrieb Die­ter Kör­ber noch 1948 in: „Was ist Kunst?“ 2Die­ter Kör­ber in: „Was ist Kunst?“, Aegis Ver­lag, Ulm, 1948, S. 72.: „Der Künst­ler ist ein Offen­ba­ren­der, der im Gewe­be sei­ner Schöp­fung letz­te Zusam­men­hän­ge des Lebens ent­hüllt, wel­che er im Anschau­en der Natur hell­sich­tig erkannt hat.“, erkennt der Ber­li­ner Künst­ler Ray­mond Unger im Jah­re 2013: „Kunst […] hat sich in ihrem Bemü­hen um Auto­no­mie und Zweck­frei­heit so weit von der Gesell­schaft ent­fernt, daß jeg­li­cher Sinn- oder Bot­schafts­ge­dan­ke als absurd […]“ gilt. 3Ray­mond Unger: „Die Hel­den­rei­se des Künst­lers“, Unger/Edition Für­sten­feld, 2013, S. 15.

Bei Kali­stra­tow wer­den dage­gen wich­ti­ge Inhal­te aus­ge­drückt, die der Kunst eine Bot­schaft bei­mes­sen, die im Zeit­al­ter der Moder­ne – zunächst ange­fan­gen mit dem Kubis­mus [Pablo Picas­so 1906] Suprematismus/Konstruktivismus [Kasi­mir Male­witsch, 1913; Wla­di­mir Tat­lin, 1916] und Dada­is­mus [Hugo Ball, Tri­stan Tzara, Richard Huel­sen­beck 1916] über die soge­nann­te abstrak­te Kunst und die neu­er­li­che Kon­zept­kunst, voll­stän­dig auf­ge­ge­ben wur­de.

Ich erin­ne­re Sie an Male­witschs „Schwar­zes Qua­drat“ und Mar­cel Duch­amps Rea­dy­ma­de „Uri­nal“ – übri­gens bei­de aus dem Jahr 1913.

Kali­stra­tow hef­tet hin­ge­gen eigen­wil­lig sei­ner Kunst Bot­schaf­ten an, Span­nungs­fel­der, die aus den Bil­dern extra­hiert wer­den, ent­schlüs­selt wer­den kön­nen und erzeugt dar­in Stim­mun­gen, die nüch­tern küh­le bis beklem­men­de Aus­blicke lie­fern und den Betrach­ter zur Bereit­schaft brin­gen sol­len, die Welt und das Leben, bzw. Erle­ben anders zu begrei­fen und sich anders dazu zu ver­hal­ten, als er es jetzt tut.

Dazu Was­si­ly Kan­din­sky aus: Über das Gei­sti­ge in der Kunst 4Was­si­ly Kan­din­sky: „Über das Gei­sti­ge in der Kunst“, Ben­teli Ver­lag, Bern, dt. EA 1952, S. 32.: „Die sel­te­nen See­len aber, die nicht in Schlaf gehüllt wer­den kön­nen und dunk­les Ver­lan­gen nach gei­sti­gem Leben, Wis­sen und Vor­schrei­ten füh­len, klin­gen im gro­ben mate­ri­el­len Cho­rus, trost­los und kla­gend.“

 

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Die Serie „Vir­tu­el­le Uto­pien“, dazu die Ein­zel­wer­ke „Coro­na Mul­ti­di­men­sio­nal“, „Über­le­bens­ma­schi­ne Mensch“ und „Ent­my­sti­fi­ka­ti­on“ haben eine sehr kal­te, tech­ni­sche Anmu­tung, mit bizar­ren, sta­che­li­gen, metal­lisch wir­ken­den For­men, die unmensch­lich und lebens­feind­lich erschei­nen – das alles erin­nert mich unwei­ger­lich an die „Maschi­nen­stadt“ und die „Wäch­ter“ aus ‚Matrix Revo­lu­ti­ons‘ 5„The Matrix Revo­lu­ti­ons“, Vil­la­ge Road­show Films (BVI) Limited,2003;  War­ner Bros. Enter­tain­ment Inc., 2004., dem drit­ten Teil der bekann­ten Film­tri­lo­gie.

Häu­fig ver­wen­det der Künst­ler ein Bild­ele­ment in stark kon­tra­stie­ren­der Form und Far­be, das ein gro­ßes Insekt zeigt oder einen Dämon, das auf­zeigt, was die Gno­sti­ker unter einem Demi­ur­gen ver­ste­hen: einen bösen Schöp­fer­gott, dem alles Mate­ri­el­le unter­steht. Und da die Men­schen heu­te –
in der über­wie­gen­den Mehr­zahl – vom Glau­ben abge­fal­len sind und nur noch dem Mate­ri­el­len zuspre­chen, haben sie die­sem Wesen nichts ent­ge­gen­zu­set­zen, son­dern sind nur­mehr Ver­fü­gungs­mas­se, die halt­los hin- und her­ge­schubst wird.

Eben­so erken­ne ich in den Wer­ken Kali­stra­tows dar­ge­stellt Visio­nen von Ver­schwö­rungs­ideen und Frei­mau­rer­sym­bo­lik. Sol­che Vor­stel­lun­gen gibt es schon lan­ge, und zwar solan­ge wie es die Frei­mau­rer gibt. Laut „beken­nen­den deut­schen Mau­rern aus dem 19. Jahr­hun­dert (Fin­del und Kel­ler) beginnt die Frei­maue­rei mit der Grün­dung der eng­li­schen Groß­lo­ge am 24. Juni 1717, ande­re füh­ren sie wei­ter zurück bis zu den Myste­ri­en der Völ­ker des Alter­tums, von den Ägyp­tern und Per­sern ange­fan­gen.“ 6Gre­gor Schwartz-Bostu­nit­sch: „Die Frei­mau­re­rei“, Deut­sche Haus­bü­che­rei Ham­burg, EA 1928, S. 9.

Kali­stra­tow ver­sucht, genau sol­che Din­ge zu visua­li­sie­ren: okkul­te Hin­ter­grund­mäch­te, Kräf­te, die im Schat­ten wir­ken, von denen übri­gens nie­mals beim Nach­rich­ten­on­kel die Rede ist, die aber schein­bar trotz­dem im Hin­ter­grund geschickt, weil uner­kannt, ihre Strip­pen zie­hen und damit ganz offen­bar die „mensch­li­che“ Vari­an­te des gno­sti­schen bösen Demi­ur­gen ein­neh­men.

Jetzt könn­te man glau­ben – wenn es nun das eine oder ande­re ist: ein­mal ein über­welt­li­ches Wesen, das alles, was uns sicht­bar ist, geschaf­fen hat: die Erde, alle mate­ria­li­sti­schen Güter und selbst das, was wir sonst noch wahr­neh­men kön­nen vom Wel­ten­raum – dann ist ja ohne­hin alles ver­ge­bens und wir müs­sen uns dem unver­meid­li­chen Schick­sal fügen.
Dann war die Mensch­heits­ge­schich­te doch ohne­hin nur ein eit­ler Traum.

Und wenn es das ande­re ist? – die Welt­ver­schwö­rung, die alle dazu erfor­der­li­chen Kräf­te bün­delt: Finan­zen, Kon­zer­ne, Phar­ma, Poli­tik und Medi­en –
auch dann gehö­ren wir längst der Katz, denn wir haben es nicht ver­mocht uns eine Posi­ti­on zu erhal­ten oder zu erar­bei­ten, die dem Gan­zen noch etwas Wesent­li­ches ent­ge­gen­set­zen könn­te.

Doch jeder Gedan­ke an vor­ei­li­ge Kapi­tu­la­ti­on und Selbst­auf­ga­be ist so nihi­li­stisch wie falsch: Tat­säch­lich soll­te der Anflug von Ohn­macht uns viel­mehr zur Kraft ver­hel­fen – oder, wie Kali­stra­tow das nennt: zur Selbst­rea­li­sa­ti­on; also die Din­ge aus eige­ner Kraft zu begrei­fen, zu umfas­sen, sich klar­zu­ma­chen und dar­an zu wach­sen.

 

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Wäh­rend nun der Künst­ler also glaubt, Ant­wor­ten fin­den zu kön­nen, dar­über zu Auf­schlüs­sen und Ergeb­nis­sen zu gelan­gen und schließ­lich die­se in sei­ner Kunst dar­zu­stel­len – im Glau­ben an sei­nen Geist, an sei­nen Gott oder immer­hin an sei­ne Fähig­kei­ten; steht dem­ge­gen­über immer der Nihi­list, der Tro­glo­dyt, der nichts davon wis­sen will und den auch schein­bar nichts davon inter­es­siert, der sich viel­mehr trei­ben läßt auf dem knall­bun­ten Rum­mel der „geord­ne­ten“ Mas­sen­de­mo­kra­tie –, der sich allein dazu bewe­gen läßt, oder sich nur dazu bewe­gen kann, das zu tun, was alle schon tun. Und damit als klei­nes Räd­chen in einem unüber­sicht­li­chen Getrie­be dar­an Teil hat, daß die Welt so aus­sieht wie sie aus­sieht. Eben gera­de durch Phan­ta­sie­lo­sig­keit, durch ober­fläch­li­che Welt­an­eig­nung und man­geln­des Inter­es­se am inne­ren Wesen der Din­ge.

Imma­nu­el Kant nennt das 1784 7Imma­nu­el Kant: Beant­wor­tung der Fra­ge: „Was ist Auf­klä­rung?“, in: Ber­li­ni­sche Monats­schrift, 1784, H. 12, S. 481-494. die „selbst­ver­schul­de­te Unmün­dig­keit.“
„[…] Selbst­ver­schul­det ist die­se Unmün­dig­keit, wenn die Ursa­che der­sel­ben nicht aus Man­gel des Ver­stan­des, son­dern der Ent­schlie­ßung und des Mutes liegt, sich sei­ner – ohne Lei­tung eines andern – zu bedie­nen. […]“

Inso­fern kann ich nur jedem von Ihnen mit Kant zuru­fen:
‚Sape­re aude! Habe Mut, dich dei­nes eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen!‘

Und zwar nicht ein­mal – aus lau­ter Über­mut zwi­schen Zwölf und Mit­tag oder nach zwei Fla­schen Rot­wein, son­dern ex nunc – von jetzt an und für immer, kon­ti­nu­ier­lich. Man muß auf der Höhe blei­ben, abwä­gen, nach­den­ken, ver­wer­fen. Wie­der nach­den­ken, for­schen, sich aus­tau­schen. Dabei hilft uns der Neben­mensch, der Nach­bar, der Part­ner, der Freund, damit wir nicht ganz auf uns selbst gestellt sind. Und das Schö­ne dabei ist: die Din­ge fin­den sich, wenn man sich auf den Weg macht.

Damit uns das noch bes­ser gelingt, soll­ten wir dem eigent­lich – dem kann aber 2023 nicht jeder mehr fol­gen – eine spi­ri­tu­el­le Kom­po­nen­te zugrun­de­le­gen. So weiß etwa Schmidt­hau­ser: „Fall und Zer­fall des Men­schen sind Früch­te sei­nes Abfalls von Gott.“ 8Juli­us Schmidt­hau­ser: „Der Kampf um das gei­sti­ge Reich“, Han­sea­ti­sche Ver­lags­an­stalt, Ham­burg, 1933, S. 348.

Oder bei Ger­trud von le Fort: „Den Dra­chen der Apo­ka­lyp­se wirft nicht der Mensch, son­dern der Engel Got­tes in den Abgrund. Dem nicht mehr Mensch­li­chen ist nur das Über­mensch­li­che gewach­sen.“ 9Ger­trud von Le Fort: „Die Kro­ne der Frau“, Peter Schif­fer­li, Arche Ver­lag, Zürich, 1950, S. 101.

 

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In einer Welt, die immer mehr ohne uns Men­schen aus­kommt, wie­der festen Grund zu suchen, Bestän­de, an denen wir uns fest­hal­ten kön­nen zu eta­blie­ren, die uns per­sön­lich siche­ren Halt bie­ten als Fun­da­ment unse­rer – alle Augen­blicke mög­li­chen – per­sön­li­chen Selbst­rea­li­sa­ti­on.

Doch hören Sie nicht allein auf mei­ne Erklä­run­gen, son­dern wen­den Sie sich – dazu for­de­re ich Sie aus­drück­lich auf – an ihren Neben­men­schen. Mag er groß oder klein sein, mag er ansehn­lich und ele­gant oder skur­ril und eigen­wil­lig aus­se­hen. In ihm wohnt der­sel­be Geist, ein intel­li­gi­bles Wesen, das sich die Welt zu erklä­ren ver­mag. Ver­su­chen Sie’s!

Wenn das nicht hilft, dann kön­nen Sie heu­te den Künst­ler selbst befra­gen, der ja heu­te erfreu­li­cher­wei­se anwe­send ist.
Ich wün­sche Ihnen viel Spaß bei der Aus­stel­lung von Wla­di­mir Kali­stra­tow und viel Spaß bei der Erfah­rung Ihrer unbe­kann­ten Gegen­über.

Vie­len Dank für Ihre Auf­merk­sam­keit!

»Eröff­nungs­re­de zur Aus­stel­lungs­er­öff­nung« gelesen/gehalten am 04.06.2023, © 2023 ChrisK., VG Bild-Kunst, Bonn.

 

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Aus­stel­lung: »Selbst­rea­li­sta­ti­on« Wal­d­imir Kali­stra­tow, vom 4. – 25. Juni 2023
Adres­se: Tor­haus Rom­berg­park, Am Rom­berg­park 65, 44225 Dort­mund
Öff­nungs­zei­ten: Di-Sa 14:00-18:00 Uhr; So/Feiertags: 10:00-18:00 Uhr

 

Key­words: Aus­stel­lung, Selbst­rea­li­sa­ti­on, Tor­haus, Rom­berg­park, Wal­d­imir Kali­stra­tow, Kunst, Digi­ta­le Kunst, Zukunfts­vi­sio­nen, Aus­stel­lungs­er­öff­nung, Eröff­nungs­re­de, Sozia­le Kon­flik­te, abstrak­te Kunst, Sinn, Bot­schafts­ge­dan­ken, Zeit­geist, Kri­tik, Non­kon­for­mist, Non­kon­for­mis­mus, Vir­tu­el­le Uto­pien, Über­le­bens­ma­schi­ne Mensch, Ent­my­sti­fi­ka­ti­on, Juni 2023, Kunst­aus­stel­lung.

 

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Quellenverweise:
  • 1
    gleich­na­mi­ger Buch­ti­tel: Horst Bre­de­kamp: „Kunst als Medi­um sozia­ler Kon­flik­te“, Suhr­kamp Ver­lag, Frank­furt a.M., 1975.
  • 2
    Die­ter Kör­ber in: „Was ist Kunst?“, Aegis Ver­lag, Ulm, 1948, S. 72.
  • 3
    Ray­mond Unger: „Die Hel­den­rei­se des Künst­lers“, Unger/Edition Für­sten­feld, 2013, S. 15.
  • 4
    Was­si­ly Kan­din­sky: „Über das Gei­sti­ge in der Kunst“, Ben­teli Ver­lag, Bern, dt. EA 1952, S. 32.
  • 5
    „The Matrix Revo­lu­ti­ons“, Vil­la­ge Road­show Films (BVI) Limited,2003;  War­ner Bros. Enter­tain­ment Inc., 2004.
  • 6
    Gre­gor Schwartz-Bostu­nit­sch: „Die Frei­mau­re­rei“, Deut­sche Haus­bü­che­rei Ham­burg, EA 1928, S. 9.
  • 7
  • 8
    Juli­us Schmidt­hau­ser: „Der Kampf um das gei­sti­ge Reich“, Han­sea­ti­sche Ver­lags­an­stalt, Ham­burg, 1933, S. 348.
  • 9
    Ger­trud von Le Fort: „Die Kro­ne der Frau“, Peter Schif­fer­li, Arche Ver­lag, Zürich, 1950, S. 101.