Wladimir Kalistratow legt in seinem Werk eine visionäre Kraft an den Tag, die Künstlern eigentlich schon im letzten Jahrhundert verlorengegangen ist, bzw. verworfen und zuletzt ganz abgelehnt wurde, nämlich der „Kunst als Medium sozialer Konflikte“. 1gleichnamiger Buchtitel: Horst Bredekamp: „Kunst als Medium sozialer Konflikte“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 1975.
Schrieb Dieter Körber noch 1948 in: „Was ist Kunst?“ 2Dieter Körber in: „Was ist Kunst?“, Aegis Verlag, Ulm, 1948, S. 72.: „Der Künstler ist ein Offenbarender, der im Gewebe seiner Schöpfung letzte Zusammenhänge des Lebens enthüllt, welche er im Anschauen der Natur hellsichtig erkannt hat.“, erkennt der Berliner Künstler Raymond Unger im Jahre 2013: „Kunst […] hat sich in ihrem Bemühen um Autonomie und Zweckfreiheit so weit von der Gesellschaft entfernt, daß jeglicher Sinn- oder Botschaftsgedanke als absurd […]“ gilt. 3Raymond Unger: „Die Heldenreise des Künstlers“, Unger/Edition Fürstenfeld, 2013, S. 15.
Bei Kalistratow werden dagegen wichtige Inhalte ausgedrückt, die der Kunst eine Botschaft beimessen, die im Zeitalter der Moderne – zunächst angefangen mit dem Kubismus [Pablo Picasso 1906] Suprematismus/Konstruktivismus [Kasimir Malewitsch, 1913; Wladimir Tatlin, 1916] und Dadaismus [Hugo Ball, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck 1916] über die sogenannte abstrakte Kunst und die neuerliche Konzeptkunst, vollständig aufgegeben wurde.
Ich erinnere Sie an Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ und Marcel Duchamps Readymade „Urinal“ – übrigens beide aus dem Jahr 1913.
Kalistratow heftet hingegen eigenwillig seiner Kunst Botschaften an, Spannungsfelder, die aus den Bildern extrahiert werden, entschlüsselt werden können und erzeugt darin Stimmungen, die nüchtern kühle bis beklemmende Ausblicke liefern und den Betrachter zur Bereitschaft bringen sollen, die Welt und das Leben, bzw. Erleben anders zu begreifen und sich anders dazu zu verhalten, als er es jetzt tut.
Dazu Wassily Kandinsky aus: Über das Geistige in der Kunst 4Wassily Kandinsky: „Über das Geistige in der Kunst“, Benteli Verlag, Bern, dt. EA 1952, S. 32.: „Die seltenen Seelen aber, die nicht in Schlaf gehüllt werden können und dunkles Verlangen nach geistigem Leben, Wissen und Vorschreiten fühlen, klingen im groben materiellen Chorus, trostlos und klagend.“
Die Serie „Virtuelle Utopien“, dazu die Einzelwerke „Corona Multidimensional“, „Überlebensmaschine Mensch“ und „Entmystifikation“ haben eine sehr kalte, technische Anmutung, mit bizarren, stacheligen, metallisch wirkenden Formen, die unmenschlich und lebensfeindlich erscheinen – das alles erinnert mich unweigerlich an die „Maschinenstadt“ und die „Wächter“ aus ‚Matrix Revolutions‘ 5„The Matrix Revolutions“, Village Roadshow Films (BVI) Limited,2003; Warner Bros. Entertainment Inc., 2004., dem dritten Teil der bekannten Filmtrilogie.
Häufig verwendet der Künstler ein Bildelement in stark kontrastierender Form und Farbe, das ein großes Insekt zeigt oder einen Dämon, das aufzeigt, was die Gnostiker unter einem Demiurgen verstehen: einen bösen Schöpfergott, dem alles Materielle untersteht. Und da die Menschen heute –
in der überwiegenden Mehrzahl – vom Glauben abgefallen sind und nur noch dem Materiellen zusprechen, haben sie diesem Wesen nichts entgegenzusetzen, sondern sind nurmehr Verfügungsmasse, die haltlos hin- und hergeschubst wird.
Ebenso erkenne ich in den Werken Kalistratows dargestellt Visionen von Verschwörungsideen und Freimaurersymbolik. Solche Vorstellungen gibt es schon lange, und zwar solange wie es die Freimaurer gibt. Laut „bekennenden deutschen Maurern aus dem 19. Jahrhundert (Findel und Keller) beginnt die Freimauerei mit der Gründung der englischen Großloge am 24. Juni 1717, andere führen sie weiter zurück bis zu den Mysterien der Völker des Altertums, von den Ägyptern und Persern angefangen.“ 6Gregor Schwartz-Bostunitsch: „Die Freimaurerei“, Deutsche Hausbücherei Hamburg, EA 1928, S. 9.
Kalistratow versucht, genau solche Dinge zu visualisieren: okkulte Hintergrundmächte, Kräfte, die im Schatten wirken, von denen übrigens niemals beim Nachrichtenonkel die Rede ist, die aber scheinbar trotzdem im Hintergrund geschickt, weil unerkannt, ihre Strippen ziehen und damit ganz offenbar die „menschliche“ Variante des gnostischen bösen Demiurgen einnehmen.
Jetzt könnte man glauben – wenn es nun das eine oder andere ist: einmal ein überweltliches Wesen, das alles, was uns sichtbar ist, geschaffen hat: die Erde, alle materialistischen Güter und selbst das, was wir sonst noch wahrnehmen können vom Weltenraum – dann ist ja ohnehin alles vergebens und wir müssen uns dem unvermeidlichen Schicksal fügen.
Dann war die Menschheitsgeschichte doch ohnehin nur ein eitler Traum.
Und wenn es das andere ist? – die Weltverschwörung, die alle dazu erforderlichen Kräfte bündelt: Finanzen, Konzerne, Pharma, Politik und Medien –
auch dann gehören wir längst der Katz, denn wir haben es nicht vermocht uns eine Position zu erhalten oder zu erarbeiten, die dem Ganzen noch etwas Wesentliches entgegensetzen könnte.
Doch jeder Gedanke an voreilige Kapitulation und Selbstaufgabe ist so nihilistisch wie falsch: Tatsächlich sollte der Anflug von Ohnmacht uns vielmehr zur Kraft verhelfen – oder, wie Kalistratow das nennt: zur Selbstrealisation; also die Dinge aus eigener Kraft zu begreifen, zu umfassen, sich klarzumachen und daran zu wachsen.
Während nun der Künstler also glaubt, Antworten finden zu können, darüber zu Aufschlüssen und Ergebnissen zu gelangen und schließlich diese in seiner Kunst darzustellen – im Glauben an seinen Geist, an seinen Gott oder immerhin an seine Fähigkeiten; steht demgegenüber immer der Nihilist, der Troglodyt, der nichts davon wissen will und den auch scheinbar nichts davon interessiert, der sich vielmehr treiben läßt auf dem knallbunten Rummel der „geordneten“ Massendemokratie –, der sich allein dazu bewegen läßt, oder sich nur dazu bewegen kann, das zu tun, was alle schon tun. Und damit als kleines Rädchen in einem unübersichtlichen Getriebe daran Teil hat, daß die Welt so aussieht wie sie aussieht. Eben gerade durch Phantasielosigkeit, durch oberflächliche Weltaneignung und mangelndes Interesse am inneren Wesen der Dinge.
Immanuel Kant nennt das 1784 7Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: „Was ist Aufklärung?“, in: Berlinische Monatsschrift, 1784, H. 12, S. 481-494. die „selbstverschuldete Unmündigkeit.“
„[…] Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht aus Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner – ohne Leitung eines andern – zu bedienen. […]“
Insofern kann ich nur jedem von Ihnen mit Kant zurufen:
‚Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‘
Und zwar nicht einmal – aus lauter Übermut zwischen Zwölf und Mittag oder nach zwei Flaschen Rotwein, sondern ex nunc – von jetzt an und für immer, kontinuierlich. Man muß auf der Höhe bleiben, abwägen, nachdenken, verwerfen. Wieder nachdenken, forschen, sich austauschen. Dabei hilft uns der Nebenmensch, der Nachbar, der Partner, der Freund, damit wir nicht ganz auf uns selbst gestellt sind. Und das Schöne dabei ist: die Dinge finden sich, wenn man sich auf den Weg macht.
Damit uns das noch besser gelingt, sollten wir dem eigentlich – dem kann aber 2023 nicht jeder mehr folgen – eine spirituelle Komponente zugrundelegen. So weiß etwa Schmidthauser: „Fall und Zerfall des Menschen sind Früchte seines Abfalls von Gott.“ 8Julius Schmidthauser: „Der Kampf um das geistige Reich“, Hanseatische Verlagsanstalt, Hamburg, 1933, S. 348.
Oder bei Gertrud von le Fort: „Den Drachen der Apokalypse wirft nicht der Mensch, sondern der Engel Gottes in den Abgrund. Dem nicht mehr Menschlichen ist nur das Übermenschliche gewachsen.“ 9Gertrud von Le Fort: „Die Krone der Frau“, Peter Schifferli, Arche Verlag, Zürich, 1950, S. 101.
In einer Welt, die immer mehr ohne uns Menschen auskommt, wieder festen Grund zu suchen, Bestände, an denen wir uns festhalten können zu etablieren, die uns persönlich sicheren Halt bieten als Fundament unserer – alle Augenblicke möglichen – persönlichen Selbstrealisation.
Doch hören Sie nicht allein auf meine Erklärungen, sondern wenden Sie sich – dazu fordere ich Sie ausdrücklich auf – an ihren Nebenmenschen. Mag er groß oder klein sein, mag er ansehnlich und elegant oder skurril und eigenwillig aussehen. In ihm wohnt derselbe Geist, ein intelligibles Wesen, das sich die Welt zu erklären vermag. Versuchen Sie’s!
Wenn das nicht hilft, dann können Sie heute den Künstler selbst befragen, der ja heute erfreulicherweise anwesend ist.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Ausstellung von Wladimir Kalistratow und viel Spaß bei der Erfahrung Ihrer unbekannten Gegenüber.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
»Eröffnungsrede zur Ausstellungseröffnung« gelesen/gehalten am 04.06.2023, © 2023 ChrisK., VG Bild-Kunst, Bonn.
Ausstellung: »Selbstrealistation« Waldimir Kalistratow, vom 4. – 25. Juni 2023
Adresse: Torhaus Rombergpark, Am Rombergpark 65, 44225 Dortmund
Öffnungszeiten: Di-Sa 14:00-18:00 Uhr; So/Feiertags: 10:00-18:00 Uhr
Keywords: Ausstellung, Selbstrealisation, Torhaus, Rombergpark, Waldimir Kalistratow, Kunst, Digitale Kunst, Zukunftsvisionen, Ausstellungseröffnung, Eröffnungsrede, Soziale Konflikte, abstrakte Kunst, Sinn, Botschaftsgedanken, Zeitgeist, Kritik, Nonkonformist, Nonkonformismus, Virtuelle Utopien, Überlebensmaschine Mensch, Entmystifikation, Juni 2023, Kunstausstellung.
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