„Das Verhältnis der beiden metaphysischen Instrumente des Menschen, des Begriffs und des Bildes, bietet einen unerschöpflichen Stoff zu Vergleichen. So kann man sagen, daß der Begriff unproduktiv ist, sofern er nur Vorhandenes, Entdecktes, Verfügbares ordnet, während das Bild geistige Wirklichkeit erzeugt und dem Sein bisher verschlossene Momente abringt.
Der Begriff nimmt sorgenvoll Distinktionen und Gruppierungen innerhalb fertiger Tatbestände vor, das Bild greift abenteuerlich und unbekümmert ins Weite und Unbegrenzte hinaus. Der Begriff lebt von der Angst, das Bild von der triumphierenden Festlichkeit der Entdeckung. Der Begriff muß seine Beute, wenn er nicht überhaupt nur einen Kadaver übernahm, töten, das Bild läßt schäumendes Leben erscheinen. Der Begriff als Begriff schließt das Geheimnis aus, das Bild ist insofern eine paradoxe Einheit der Gegensätze, als es zugleich erhellt und das Dunkel ehrt. Der Begriff ist greisenhaft, das Bild immer frisch und jung. Der Begriff ist ein Opfer der Zeit und veraltet schnell, das Bild ist immer schon jenseits der Zeit. Der Begriff ist dem Fortschritt zugeordnet, weshalb denn auch die Wissenschaften unter die Kategorie des Fortschritts gehören, während das Bild Eigentum des Augenblicks ist. Der Begriff ist Sparsamkeit, das Bild Verschwendung. Der Begriff ist, was er ist, das Bild ist immer mehr als das, was es zu sein vorgibt. Der Begriff appelliert an den Kopf, das Bild an das Herz. Der Begriff bewegt nur eine periphere Schicht, das Bild wirkt auf das Ganze oder wenigstens auf den Kern der Existenz. Der Begriff ist endlich, das Bild unendlich. Der Begriff vereinfacht, das Bild ehrt die Vielheit. Der Begriff nimmt Partei, das Bild enthält sich des Urteils. Der Begriff ist allgemein, das Bild zunächst individuell, und auch da, wo man das Bild allgemein machen und ihm Erscheinungen unterordnen kann, erinnern diese Aktionen an aufregende Jagden, und die Langeweile der generellen Subsumtion ist ihnen fern.“
Keywords: metaphysische Instrumente, Begriff, Bild, Gerhard Nebel, Tagebücher, Tagebuch, Wort, Sprache, Denken, Sehen, Vorstellung, Idee, Ausdruck, Klarheit, Präzision, Bildinhalt, Begriffsinhalt, Begriffsvorstellung, Weltaneignung, Bewußtseinshorizont, Vorstellungswelt, Theorie.
Quelle: »Auf ausonischer Erde. Latium und Abruzzen.“ Gerhard Nebel, © Marées Verlag, Wuppertal, 1949